Mitternachtssonne, Hekkingen, Norwegen, Juni 1950
Schweizer Fotograf Emil Schulthess: Aufnahmen und Leben
Faszinierende Fotoserien der Sonnenbewegung
Das faszinierende Panorama der am Horizont poetisch auf- und absteigenden Mitternachtssonne habe ich zum ersten Mal als Junge in meinem Schulbuch für Geographie gesehen. Über die Jahre bin ich immer wieder in diversen populären naturwissenschaftlichen Zeitschriften auf die beeindruckende Bilderserie gestossen, die 1950 in Norwegen entstanden ist ohne zu wissen, von wem sie eigentlich stammt.
Während der Vorbereitung zu diesem Text begegnete ich somit der 24-teiligen Fotoserie wie einer alten Bekannten, deren Namen man nicht kennt, aber deren Wiedersehen ein vertrautes Gefühl auslöst. Nun endlich löste sich das Rätsel für mich auf: Der Schöpfer des Panoramas ist der Schweizer Fotograf Emil Schulthess.
Für mich ist diese kontinuierliche Wiederkehr des Motivs ein Indiz dafür, dass dieser Flügelaltar des Sonnengottes Helios definitiv ein Teil des kollektiven Bildgedächtnisses ist. Zudem begegnet uns in dem Panorama ein stilistischer Dreiklang, der sich durch das ganze Werk des Fotografen zieht: Ästhetisch, wissenschaftlich, emotional.
Abenteurer, Wissenschaftler und Künstler
Auf den Spuren von Entdeckern wie dem Antarktispionier Robert Scott hat sich der 1913 geborene Schweizer Fotograf Emil Schulthess auf viele Reisen in die letzten Winkel der Erde begeben. Angetrieben von der Motivation, die letzten weissen Flecken auf der Landkarte ins Licht zu holen.
Erste Reisen führten Emil Schulthess in den 1950er Jahren nach Afrika und in die USA, später folgten Ziele in Asien und Südamerika sowie die Teilnahme an einer Expedition der US Navy in die Antarktis. Viele können es sich im Zeitalter von satellitengestützter Kartografie gar nicht mehr vorstellen, aber es gibt sie auch heute noch - die Terra incognita. Nicht nur an Land, sondern insbesondere im Meer. Sind doch etwa 70% der Erde von Wasser bedeckt ein Grossteil davon weiterhin unerforscht.
Noch immer werden nahezu täglich neue Landstriche und Unterwasserwelten gefunden, ganz zu Schweigen von Tierarten, von denen nach neueren Studien noch ca. 86 % unentdeckt sind. Das, was für uns heute gilt, galt ergo für den 1996 verstorbenen Fotografen noch vielmehr.
Emil Schulthess war ein Abenteurer, dabei immer Wissenschaftler, aber auch Künstler. Wie jeder Fotograf war er fasziniert vom Licht. Schulthess jedoch pflegte nahezu eine Obsession mit dessen natürlicher Quelle: der Sonne. Ob nun sie selbst das Motiv ist oder nur ihr Strahlen, mit Vorliebe setzt er den Feuerball als Stilmittel ein.
Seien es Autos, die in Los Angeles in einem roten Lichtmeer der untergehenden Sonne geisterhaft verschwinden oder die Halos und farbigen Brechungen in den Eiskristallen der Antarktis Schulthess war ein begnadeter Lichtfänger. Dabei überzeugt der gebürtige Zürcher immer mit gelungenen Bildkompositionen. Dies mag auch seiner Ausbildung als Grafiker geschuldet sein. Seine fotografischen Grundkenntnisse erlangte er wiederum später als Hospitant in Hans Finslers Fotoklasse.
Sein unbändiges Interesse an der Welt mit ihrer Natur und den darin lebenden Tieren und Menschen, ist mit meisterhafter Lebendigkeit eingefangen. Neben diversen Bildbänden sind es hauptsächlich seine Veröffentlichungen in der legendären Schweizer Kulturzeitschrift DU, zu deren Gründungsredaktion er gehörte, die ihn bekannt machten und ihm ein Forum für seine Bildreportagen aus aller Welt boten.
Canal Street, New Orleans, Louisiana, 1953
Das technische Auge des Emil Schulthess
Schulthess wird gerne als technikversessener Tüftler bezeichnet. Zeitlebens hegte er eine Faszination für spezielle Kameras sowie ausgeklügelte optische Einrichtungen Marke Eigenbau. Insbesondere für seine kreisförmigen Aufnahmen, die mit einem Fisheye-Objektiv entstanden sind, als auch für seine Fotopanoramen erlangte er Bekanntheit.
Hervorzuheben ist hierbei sein 360-Grad-Rundbild Top of Switzerland, das für die Weltausstellung 1970 in Osaka entstand. Zudem gilt Schulthess als Pionier der Farbfotografie mit künstlerischem Flair. Dabei ging es ihm aber stets weniger um den persönlichen Ausdruck in seinen Bildern als um die wissenschaftlich akribische Dokumentation.
Emil Schulthess Fotografien 1950-1990
Herausgegeben von der Fotostiftung Schweiz. Mit einer ausführlichen Biografie von Alexis Schwarzenbach und einem Vorwort von Martin Gasser, Limmat Verlag Zürich, 296 Seiten, 173 Abbildungen, vierfarbig, Duplex, gebunden.
Erhältlich über: www.fotostiftung.ch
Alle Bilder © Emil Schulthess / Fotostiftung Schweiz / ProLitteris